23 Wir steigen wieder in die Situation ein, ab Toms Ausruf „Blöde Mama!“: Claudia atmet zweimal tief durch: „Okay, du kannst mich gerne blöd fi nden. Doch das Cola-Eis kaufe ich dir trotzdem nicht, denn das will ich nicht.“ Tom, mit Fuß aufstampfend: „Ich will es aber haben!“ Claudia: „Schade, denn du bekommst es nicht. Wenn du kein Eis in der Waff el willst, dann gehen wir weiter.“ Tom, weinerlich: „Nein, ich will ein Eis!“ Claudia kniet sich vor Tom hin, nimmt ihn in den Arm und fl üstert ihm ins Ohr: „Okay, du bist traurig. Das sehe ich gerade. Ich biete dir Erdbeere, Schoko oder Vanille an. Willst du was davon?“ Tom, leise: „Schoko.“ Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass es so abläuft. Doch die mütterliche Haltung ist eine andere. Statt sich von Toms Wut mitreißen zu lassen, übernimmt Claudia elterliche Führung. Sie hil ihm dabei, das Gefühl der Enttäuschung und Frustration auszuleben. Mit der Umarmung gibt sie ihm Sicherheit und das Signal: Du bist okay mit deinem Gefühl. Zusätzlich dient Wut als Ausdruck von Grenzüberschrei- tungen. Kinder reagieren wütend, wenn ihre Grenzen nicht respektiert werden. Hier ist es wichtig, dass Eltern nicht auf Autopilot schalten und ihren Willen durchsetzen, sondern sich in das Kind einfühlen. Eine morgendliche Anziehszene: Klaus (43) macht Marie (4) fertig für den Kindergarten. Weil es frühlingsha kühl ist, soll Marie die Daunenjacke anziehen. Klaus: „Hier, deine Jacke.“ Marie: „ …“ Klaus, noch ruhig: „Marie, zieh die Jacke an. Es ist kalt draußen.“ Marie nimmt die Jacke und wir sie auf den Boden: „Nein, ich will nur den Pulli anziehen.“ Klaus, laut: „Du hebst sofort die Jacke auf und ziehst sie an. Schluss mit der Diskussion.“ Marie läu in ihr Zimmer und schreit: „Nein!“ Klaus geht mit der Jacke hinterher: „Marie, komm her. Du ziehst die Jacke an – sofort! Sonst fällt der Zoo am Wochen- ende aus. Hast du mich verstanden?“ Marie schreit: „Mir doch egal! Ich will die blöde Jacke nicht anziehen!“ Klaus schnappt sich Marie und zieht ihr die Jacke an. Marie wehrt sich zappelnd. Dann fängt sie an zu weinen und läu zu ihrer Mutter ins Bad. Klaus fühlt sich nicht gut. Er will seine Tochter nicht zwingen. Ich wollte doch nicht so autoritär wie mein Vater werden und bin doch auf dem besten Weg dorthin. Was kann ich ändern?, fragt er sich. Marie ist auch verzweifelt. Ihre Eltern nehmen einfach nicht wahr, dass sie sich in der Jacke unwohl fühlt. Irgendwie ist ihr immer zu warm darin. Doch ihr fehlen die Worte, dies klar zu äußern. Ein Lösungsweg ist, dass Klaus versucht, den Grund für Maries Ablehnung der Jacke zu fi nden. Als Dolmetscher hil er Marie, die richtigen Worte zu fi nden. Wir steigen wieder in die Situation ein, ab Maries Abgang in ihr Zimmer: Klaus geht mit der Jacke hinterher: „Okay, Marie, ich sehe eindeutig, dass du die Jacke nicht anziehen willst. Das will ich verstehen. Wieso?“ Marie weint: „Deshalb halt.“ Klaus geht in die Knie und sieht Marie in die Augen: „Schatz, damit kann ich nichts anfangen. Ist die Jacke zu eng für dich?“ Marie schüttelt den Kopf. Klaus: „Oder fängst du in der Jacke schnell zu schwitzen an, ist dir dann zu warm?“ Marie nickt ganz leicht. Klaus: „Gut, dann weiß ich ja Bescheid. Ich frage jetzt mal schnell die Mama, ob es einen Pulli gibt, der auch okay wäre. Die Jacke nehmen wir einfach mit, falls es heute doch noch kälter wird.“ Marie nickt, schluckt eine Träne runter und läu zum Schuheanziehen wieder in den Flur. Auch für dieses Szenario gibt es keine Garantie. Jedoch ist hier die neue väterliche Haltung ausschlaggebend. Klaus erkennt das Nein seiner Tochter an und will die Gründe herausfi nden. Marie kann diese noch nicht auf Knopfdruck sagen. Daher unterstützt er sie, in dem er ihr Varianten an Gründen anbietet. Marie fühlt sich somit gesehen, ernst genommen und anerkannt. Klaus behält seine elterli- che Führung, indem er die Jacke trotzdem mitnimmt, falls es am Tag noch kälter wird. Egal, ob die kindliche Wut entsteht aus „Ich bekomme nicht, was ich will!“ oder aus „Du verletzt meine Grenzen!“, wir Eltern stehen in der Verantwortung, unseren Kindern im Umgang mit ihrer Wut zu helfen. Dafür brauchen wir Zeit. Unter Zeitdruck schalten wir auf Autopilot und geben nach oder erzwingen unseren Willen. Das schadet der Eltern-Kind-Beziehung. Wenn Sie wissen, dass eine Situation schwierig werden kann, planen Sie genügend Zeit ein, um Ihrem Kind in der Wutsituation zu helfen. Sascha Schmidt Buchautor & Familienberater